Martin Richrath: An den gängigen Klischees ist sicher was dran: Der Rheinländer an sich ist impulsiver und spontaner, der Ostwestfale ruhiger und in seiner Art verbindlicher. Das ist eine tolle Mischung, von der wir strategisch und operativ profitieren. Wir sind ein starkes Team und ich fühle mich hier rundum wohl. Übrigens bin ich auch nicht der einzige Rheinländer hier.
Temu überschüttet den europäischen Markt mit Billigprodukten und hiesige Handelsunternehmer sehen sich seit Jahren einem Regulierungs-Tsunami ausgesetzt. Was läuft eigentlich falsch?
Die Fehler liegen im System. Während sich Länder wie China nur wenig um Umwelt- und Sozialstandards scheren und entsprechend kostengünstig produzieren können, ist das nicht nur in Deutschland grundlegend anders. Gegen Dumpingpreise helfen nur konsequent durchgesetzte Handelsabkommen, aber da habe ich absehbar wenig Hoffnung. Doch wer billig kauft, kauft ja bekanntlich oft zweimal. Deshalb wird der Hype um Temu auch wieder abnehmen.
Ihre drei Hauptforderungen an die deutsche Politik?
Wir brauchen Rahmenbedingungen und Regularien, auf wir vertrauen können, neue Anreize für langfristige Investitionen gerade in digitale Technologien und ganz dringend auch Förderprogramme für junge Unternehmer. Nur so kann eine Aufbruchsstimmung und eine Kultur wachsen, in der Scheitern kein Versagen mehr ist.
"Wir haben Hierarchien flacher gemacht", so Martin Richrath
Sie haben viele Jahre in Asien gearbeitet und dort die Sehnsucht nach Wohlstand kennengelernt. Wie schätzen Sie im Vergleich dazu die Leistungsbereitschaft der Deutschen ein?
Wir müssen unsere Leistungsbereitschaft nicht kleinreden, sonst wären wir bei allen Problemen nicht da, wo wir heute sind. Was fehlt, ist der letzte Funken der Begeisterung, der Hunger nach Weiterbildung und Weiterentwicklung, der Unternehmergeist und die Risikobereitschaft. Dafür ist nicht zuletzt auch der hohe Standard unseres Sozialstaates mitverantwortlich.
Was heißt das für unsere Zukunft als Wirtschaftsnation?
Wir haben uns zu lange auf unserem Qualitätsniveau „Made in Germany" ausgeruht und sind in vielen Bereichen längst von anderen überholt worden. Jetzt kommt es darauf an, das vorhandene Potenzial freizusetzen. Dafür trägt die Politik ganz entscheidend Verantwortung.
Der Fachkräftemangel belastet die Wirtschaft. Was tut die EK Retail, um gute Leute in die Zentrale zu locken und vor allem zu halten?
Wir gehen den Weg der Umsetzung einer modernen, kreativen Arbeitsumgebung im Sinne des „New Work" und bauen deshalb gerade unsere Zentrale entsprechend um. Mit Co-Working Spaces, Ruhezonen, einem Work Café u. v. m. geben wir unserem individuellen Work-Mix aus Office, Home-Office und der generellen Möglichkeit, mobil zu arbeiten, den passenden Raum. Natürlich gibt es je nach Tätigkeitsbereich entsprechende klare Anwesenheitsregeln. Damit treffen wir den Nerv unserer Mitarbeiter und steigern unsere Attraktivität als Arbeitgeber. Berufsanfänger betrachten wir nicht als Lehrlinge, sondern als Menschen mit Potenzialen, die wir von Anfang an fördern.
Und wie verändert sich die Führungskultur bei der EK?
,,Teamwork makes the dream work": Diese amerikanische Redewendung betont die Bedeutung von Teamarbeit zur Erreichung gemeinsamer Ziele. Wir haben Hierarchien flacher gemacht und arbeiten pragmatisch und zielorientiert auf der Grundlage des klaren Bekenntnisses zum Fachhandel.
Was heißt das ganz praktisch?
Wir setzen unsere Händler in den Mittelpunkt aller Aktivitäten und suchen den direkten Austausch, denn niemand weiß besser, was der Handel braucht als die Unternehmer selbst. Regelmäßige Besuche unserer Handelspartner stehen deshalb ganz oben auf der Agenda.
"Der Handel bietet alle Freiheiten, sich unternehmerisch und persönlich zu verwirklichen", ist sich der EK Retail-Chef sicher
Wie kann man eigentlich als mittelständisch geprägte EK Retail gegen mächtige Digitalkonzerne wie Amazon oder Zalando „anstinken"?
Amazon und Zalando sind starke Digitalplattformen. Aber das können wir im Grundsatz auch. Darüber hinaus bringen wir unsere Persönlichkeiten und die Begeisterung für die Branche mit ein und unterstützen den Fachhandel mit großer Fachkompetenz und Serviceorientierung.
Und als mittelständischer Handelsunternehmer?
Unsere Händler stehen vor Ort nicht nur für starke Sortimente und Kundenorientierung, sondern vor allem auch für Individualität und Menschlichkeit. Und das ist etwas, was Digitalplattformen nicht haben und gerade in schweren Zeiten nötig ist.
Wie müssen viele Händler noch aufrüsten, um ihre Relevanz bei den Kunden zu erhöhen?
Wir bieten eine Vielzahl von Qualifizierungsangeboten beispielsweise im Social- Media-Bereich oder zum Thema Nachhaltigkeit an. Bei der Nutzung besteht auf jeden Fall noch Potenzial.
Warum ist die Übernahme bzw. der Betrieb eines Einzelhandelsgeschäfts auch heute noch attraktiv?
Der Einzelhandel ist eine wunderbare Branche. Was gibt es schöneres, als ein Wunscherfüller zu sein und in die Gesichter zufriedener Kunden zu schauen. Außerdem bietet der Handel alle Freiheiten, sich unternehmerisch und persönlich zu verwirklichen.
Wie sieht in 10 Jahren das perfekte Einzelhandelsgeschäft aus?
Die Trennung zwischen digital und analog ist völlig aufgehoben, die Einkaufs- und Erlebniswelt bietet mit einem 360 Service-Angebot alles aus einer Hand und fokussiert sich zu 100 Prozent auf die Kundenbedürfnisse.
Sehen wir uns auf der IFA in Berlin?
Sehr gerne, ich werde da sein.
FOTOS: EK RETAIL
Autor: Steffen Kahnt
Dieser Artikel ist am 14. Mai 2024 erstmals erschienen in der Printausgabe von hitec Magazin, Ausgabe 5 / 2024.