Dirk Wittmer
"Quo vadis, Fachhandel?"

Er ist in der Branche bekannt, wie kaum ein anderer: Dirk Wittmer, Ex-Fachhändler aus Ratingen. Seit rund 100 Tagen ist der Vollblut-Unternehmer als Berater unterwegs und gibt sein Wissen weiter. In 48 Jahren operativem Einzelhandels-Geschäftsleben, als früherer Euronics-Aufsichtsratsvorsitzender, ehemaliger Vorstandssprecher des BSH-Mittelstandskreises, Vorstandsvorsitzender des Handelsverband NRW/Rheinland und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Ratinger Marketinggesellschaft hat der Unternehmer viel gesehen, gehört und erlebt. Jetzt kann er in Sachen Erfahrung aus dem Vollen schöpfen. Die hitec-Redaktion hat ihn im Interview gefragt: Was nun, Herr Wittmer?
hitec: Herr Wittmer, das laufende Jahr hat nicht so toll angefangen – was kommt da noch?

Dirk Wittmer: Das Jahr 2025 hat durch die internationalen Kriegsentwicklungen, die Wahlen in den USA und die Neuwahlen in Deutschland zu sehr viel Verunsicherung und defensivem Kaufverhalten im deutschen Markt gesorgt. Aufgrund der Entwicklung seit Corona und der teilweise dadurch vorab gesättigten Märkte gibt es für kaum eine Warengruppe der Unterhaltungselektronik eine Wachstumsprognose für das Jahr 2025. Wenn ich mit meinem Unternehmen nicht schrumpfen, sondern wachsen will muss ich mich entscheiden, dass ich entweder Warengruppen dazu nehme, die ich vorher nicht geführt habe. Oder ich spezialisiere mich auf Warengruppen, bei denen ich mich mit besonderen Ideen vom Markt abhebe. 

Und wenn ich das nicht will?

Die Alternative ist ansonsten eben ein größeres Stück aus dem kleiner werdenden Kuchen für mich in mein Unternehmen durch besondere Aktivitäten und Strategie rauszuschneiden. Erfolgsfaktoren in einem solchen Markt sind Flexibilität und schnelle Anpassungsfähigkeit. Es ist trotzdem sinnvoll, eine Planung zu haben, um zu überprüfen, ob ich davon positiv oder negativ abweiche. Die Bereitschaft, sich ständig anzupassen, muss zur Grundeinstellung werden. Ein Bewusstsein für die Möglichkeiten der Anpassungsfähigkeit und Veränderung ist für das persönliche Empfinden dabei sehr wichtig. Auch die Mitarbeiter sollten in die Strategie involviert sein, weil sie sich auch Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen. Sorge ist ein schlechter Ratgeber. Eine individuelle Firmenkonjunktur für das eigene Unternehmen ist die beste Alternative zu der derzeitigen Marktentwicklung.

Was ist derzeit das heißeste Geschäftskonzept rund um elektrische und elektronische Produkte? 

Es sind die Geschäftskonzepte, die Social Media-Auftritte mit Shopping-Erlebnis konzeptionell verbinden. Wir leben in einer Zeit der Verunsicherung und Preissteigerungen. Da sehnen sich die Menschen nach kleinen Fluchten, wo sie sich trotzdem was gönnen.

Wieso tut sich die Branche trotz aller Innovationen so schwer mit dem Geldverdienen?

Es ist zu viel Ware im Angebot und das führt immer zu Verdrängungswettbewerb. Symptome sind Ausleseprozess und Marktkonzentration auf immer weniger Anbieter. Wer aber Leistung anbietet, die kaufentscheidend ist, muss Spanne machen und Geld verdienen. Der Gesetzgeber hat dafür vor über einem Jahr die Rahmenbedingungen für differenzierte Konditionen nach Leistung im Vertrieb gegeben. Es darf zwischen reinen Online Anbietern und stationären Vertriebsleistungen unterschieden werden. Jeder Händler braucht also Frequenz- und Spannenbringer in einem gesunden Mix im Sortiment, um zu überleben und damit sich Multichannel-Handel lohnt.

Für ein Einzelhandelsstandort zählen laut Sprichwort drei Faktoren: Lage, Lage und Lage. Gilt das heute noch? 

Ja, das ist immer noch so. Aber die Geschäfte im Umfeld ändern sich oft in der Akzeptanz der Kunden mit ihrem Konzept und Sortiment. Viele Einkaufszentren haben daher mit ihrem Mix an Geschäften große Probleme. City-Randlagen, die Parkplätze kostenlos anbieten und auch mit Rad + ÖPNV gut zu erreichen sind, gewinnen in der Gunst der Kunden.

Welche Chancen hat man als Händler, auf die Entwicklung der Innenstädte Einfluss zu nehmen?

Innenstädte und Stadtteilzentren brauchen für die Zukunft ein professionelles Citymanagement. Dazu gehört dann die Gestaltung des richtigen Mix aus Gastronomie, Handel und Dienstleistungen mit Aufenthaltsqualität. Die Orte müssen als Treffpunkt und Lebensraum gestaltet werden, wenn die Bürger und Nutzer einer Stadt das Haus zum Essen und Einkaufen verlassen sollen und wollen. Als aktiver Händler sollte man sich dabei in die Gesellschaft und Werbegemeinschaften einbringen um Einfluss auf eine sinnvolle Strategie bei der Stadtentwicklung zu nehmen. Wenn eine Stadt oder ein Standort schlecht besprochen ist , hat das meist auch Auswirkungen auf den Erfolg des einzelnen Händlers.

Was kann man tun, wenn immer weniger Kunden „von alleine“ in den Laden kommen? 

Zum einen ständig Aktionen im Geschäft durchführen: Von Vorführung und auch Anwendung bis Nutzenvermittlung. Gleichzeitig Innovationen und spezielle Angebote bieten. Und alles zusammen mit Videos auf Social Media wie Tik Tok, Instagram und YouTube bewerben. Antizyklisch auch Print-Werbung mit besonderen Themen sowie mit Beilagen die Aktionen bewerben und dabei den Kundennutzen besser herausstellen. Darüber hinaus die Teilnahme mit Produktvorführungen und Verkostungen an örtlichen Veranstaltungen, wo sich viele Menschen aufhalten. So haben wir mit unserem Handelsunternehmen Cityläufe in den Stadtteilen, den Stadtwerke Ratingen Triathlon und Kulturveranstaltungen mit Kaffeemaschinen und Smoothie Makern mit Wellness Drinks begleitet. Die Geräte werden dabei gezeigt und wir haben in Zeiten von geringeren Kundenfrequenzen viele neue Kundenkontakte gewinnen können.

Kaufberatung und Auswahl gibt es massenhaft online. Warum sollen die Kunden eigentlich noch in ein „stationäres Geschäft“ gehen? 

Zum einen spricht das Internet nur zwei von 5 Sinnen an und der stationäre Handel alle 5 Sinne: Schmecken, riechen, anfassen, hören und sehen. Zum anderen haben viele Kunden neben unendlich unterschiedlichen Bewertungen vorm Kauf noch mal das Bedürfnis, eine ehrliche und individuelle Beratung in Anspruch zu nehmen. Wenn die fachlich qualifiziert ist und der Verkäufer sich gut auf die Kunden einstellt, ist das Gerät mit Zubehör dann meist verkauft.

Wo kriegt man die besten Ideen für Aktionen und Events her? 

Aus dem eigenen Kopf und durch Austausch mit agilen Mitarbeitern aus dem Team. Außerdem durch den Austausch mit aktiven Händlerkollegen, die ähnlich ticken und aus dem eigenen Erleben in anderen zeitgemäßen Geschäften.

Woran merkt man eigentlich am ehesten, dass das Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert?

Sinkende Kundenfrequenz und Nachfrage, sinkende Spannen, weniger Reaktionen auf Onlinewerbung und Beilagen, Controlling-Analyse der Kennzahlen in der eigenen EDV mit Vergleich der Marktzahlen und Entwicklung der Absatzkanäle

Wie schafft man Freiräume für strategische Planung, wenn man im operativen Tagesgeschäft und der Bürokratie absäuft? 

Auszeiten als festen Termin für Strategieüberlegungen einplanen, Wettbewerber und Anbieter sowie Kunden und deren Verhalten vergleichen, aus dem Laden rausgehen und aus Kundensicht das geänderte Kaufverhalten und den Bedarf an Handelsangebot neu definieren. Bürokratie möglichst kostengünstig delegieren und auslagern – im Gespräch mit der eigenen Einkaufsorganisation beziehungsweise Kooperation, dem Steuerberater und gegebenenfalls einem EDV-Dienstleister 

Womit verplempern Händlerkollegen am liebsten ihre Arbeitszeit? 

Lamentieren und Weltschmerz teilen.

Wenn es um Einsparungen geht: Personalkosten sind der einfachste Hebel, oder?

Solange ich eine Firma hatte sind Personalkosten prozentual die höchsten und Marketing die zweithöchsten Kosten. Aber das ist die Herausforderung und nicht das Problem. Denn ohne Marketing kommen die Kunden nicht in den Laden und wenn Mitarbeiter, die nicht leistungsgerecht bezahlt werden, demotiviert Kunden abfertigen, sind alle andere Kosten auch müßig zu gestalten. Mit dem richtigen zeitgemäßen Marketing entscheiden motivierte und gut geschulte Mitarbeiter durch ihr Verhalten, ob der Kunde kauft oder nicht. Wenn man im Handel gute Mitarbeiter durch vorübergehende Kostenprobleme verliert, holt man sie meistens nicht mehr zurück. Die gelebte Unternehmenskultur entscheidet darüber, dass das richtige Team am Start ist und bleibt.

Bleibt ein Mitarbeiter im Elektronikhandel wegen des Geldes – muss man also einfach mehr zahlen als andere?

Ja. Geld spielt eine große Rolle, aber auch Faktoren wie Wertschätzung, Teamspirit, Firmenphilosophie, Einbindung der Mitarbeiter oder Arbeitszeitmodelle sind wichtig. Faire leistungsbezogene Bezahlung ist die Basis.

Welche Kennzahlen sollte man als Einzelhändler immer im Auge haben?

Die BWA, die Kosten, die Marktentwicklung im Vergleich, die Handelsspanne, Kostenentwicklung fix und dynamisch zu Rohertrag absolut und in Prozent.

Wieso lassen sich viele Kollegen von ihren Lieferanten als Showroom oder billige Dienstleister ausnutzen? 

Weil ein Laden immer einen Mix aus gefragten Marken, Beratungsmarken und Insider-Tipps braucht. Aber natürlich ist es kein Tabu, auch mit Lieferanten über Showroomingkosten zu verhandeln und zu vereinbaren. Dafür sind dann die Präsentation, die Beratungsleistung, Öffnungszeiten und Kundenfrequenz relevante Leistungsthemen.

Wieso gibt es eigentlich in dieser Branche so wenig Mono-Marken-Stores? 

Weil wenige Marken die Brand Awareness sprich Anziehungskraft dafür haben. Die meisten Kunden möchten je nach Gerätegattung ihre Auswahl zwischen verschiedenen Marken und Produkten treffen.

Zu welchem Zeitpunkt sollte man spätestens mit der Nachfolgesuche beginnen? 

Es beginnt mit der Lebensplanung generell. Ob man bis zum Umkippen arbeiten will oder eine dritte Lebensphase auch aktiv gestalten möchte. Dann so früh wie möglich, wenn man einen Plan für ein Ausstiegsszenario hat. Mir war wichtig, dass es die Unternehmensgruppe mit Handels-, Services und Logistikbereich weitergibt und alle drei Bereiche ständig zeitgemäß weiterentwickelt werden. Daher habe ich mit 55 Jahren die Planung aufgesetzt und die Übertragung der Geschäftsanteile mit 65 Jahren geplant. 

Warum tun sich so viele Händler schwer mit dem Aufhören? 

Das ist nicht nur bei Händlern so. Viele Firmeninhaber, Ärzte und Andere gehen auch mit über 80 teilweise noch täglich in den Betrieb. Mangelnde Nachfolgeregelungen, fehlendes Vertrauen in die nächste Generation und der Wunsch nach Selbstbestätigung tragen dazu bei. 

Die besten Segler stehen immer an Land – typisch auch für Berater nach dem aktiven Berufsleben?

Ich habe die besten Segler beim America‘s Cup auf dem Wasser gesehen, sehr beeindruckend! 

Was darf ein Berater kosten und woran sollte man ihn messen?

Ein guter Unternehmer fragt nicht nur nach der Höhe der Kosten, sondern was ihm ein Invest bringt. Dann ist natürlich auch wichtig, ob man es bezahlen kann. Den guten Berater misst man an dem Erfolg für das Unternehmen.

Herr Wittmer, vielen Dank für das Gespräch.

FOTOS: PRIVAT, HITEC

Autor: Joachim Dünkelmann

 

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Dirk Wittmer im 100-Tage-Interview

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